Vergessene Jahre …?

Das Geheimnis eines alten Bildes!

Der Rundfunkchor Leipzig 1928-1930 mit Musikchef Alfred Szendrei vor der „Alten Handlebörse“, aus der die Übertragungen stattfanden.
Foto: MDR Chorarchiv – Johannes Mühler
Der Name Leipziger Rundfunkchor wird im Folgenden als Oberbegriff für alle Phasen der Chorentwicklung benutzt. Ist vom Rundfunkchor Leipzig die Rede, wird die Etappe von 1946 bis 1991 bezeichnet. Werden die jeweils gebräuchlichen Chornamen verwendet, heißt das nicht, dass es sich um „Chöre“ handelt, die ohne Beziehung zum jeweils vorhergenden oder nachfolgenden „Chor“ existieren.


Die Jahre 1924-1933

Schon häufig hat sich der Zufall als Vater größerer oder kleinerer Entdeckungen erwiesen – so auch bei der Wiederentdeckung der Vorkriegsgeschichte des Rundfunkchores in Leipzig. Als Vorstandsmitglied des MDR Chores machte Rüdiger Koch, der Verfasser dieser Schrift im März 2002 bei Aufräumungsarbeiten im MDR Chorarchiv einen bemerkenswerten Fund: 
Zwischen Heftern und Aktenordnern mit alten Rechenschaftsberichten, Korrespondenzen mit Schallplattenfirmen und anderen Veranstaltern, zwischen Chorkassenunterlagen sowie Urkunden und Medaillen fand sich ein vergilbter Umschlag mit Fotografien.

Eines dieser Bilder zog den Betrachter sofort in seinen Bann. Es war vor der Leipziger Alten Handelsbörse aufgenommen worden und zeigte Alfred Szendrei, den musikalischen Chef der Mitteldeutschen Rundfunk-A.-G. (MIRAG) inmitten von 58 Damen und Herren unterschiedlichen Alters.

www-Foto-r

Die Rückseite der Fotografie war wie folgt beschriftet: 
Nebenamtlicher Rundfunkchor Leipzig 1928 – 1930 unter Alfred Szendrei, aufgenommen vor der ‚Alten Börse‘, in der die Aufführungen stattfanden. 
Max Richter, L.-N 22 Geschw.-Scholl-Str. 12
“.

Sofort kamen dem Betrachter die Passagen aus der Chronik des MDR Sinfonieorchesters und aus der Triangel-Serie über die Geschichte des Sinfonieorchesters in den Sinn, wonach schlüssige Beweise für eine Existenz des Rundfunkchores vor dem Zweiten Weltkrieg fehlen und alle diesbezüglichen Aussagen in das Kapitel einer vagen Vorgeschichte gehören. 
Sollte das Foto ein erster Beweis dafür sein, dass die Wurzeln des Leipziger Rundfunkchores deutlich weiter zurück reichen als bisher bekannt?

Das alte Bild wirkte wie ein Wink aus der Vergangenheit, Licht in das Dunkel der frühen Jahre der Leipziger Rundfunk-Chorgeschichte zu bringen; seine Existenz hat den Autor bis heute nicht mehr losgelassen. Fragen über Fragen taten sich auf: 
Wer war jener Max Richter, der das Foto jahrelang aufbewahrt hatte und weit nach dem Kriege dem Rundfunkchor übergab? 
Wie hieß der abgebildete Chor? 
Welche Aufgaben hatte er bei der MIRAG zu erfüllen?
Konnte es möglicherweise gelingen, nach so langer Zeit Namen der abgebildeten Chormitglieder zu ermitteln? 
War der Datierung des Bildes durch Richter zu trauen? 
Gab es von diesem Chor eine Entwicklungslinie hin zur Chorgründung des Jahres 1946?

Einige der aufgeworfenen Fragen konnten durch eine genaue Betrachtung des Bildes und eine Deutung der rückseitigen Bemerkungen beantwortet werden. So waren über den angegebenen Ort und über Szendrei als die zentrale Person Zweifel nicht möglich.

Ein ähnliches auf 1926 datiertes Foto zeigt übrigens den Dirigenten, umringt vom Leipziger Sinfonieorchester, ebenfalls vor der Alten Handelsbörse.

Auf Grund der Anzahl der Personen sowie des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen Damen und Herren erschien es als äußerst wahrscheinlich, dass das aufgefundene Foto einen Chor abbildete. Über Max Richter, der dem Chor angehört haben dürfte, konnte mit Hilfe Leipziger Adressbücher und des Melderegisters festgestellt werden, dass er in der Georgstraße 12 gewohnt hatte und von Beruf Taubstummenlehrer gewesen war. Um 1960 verließ er Leipzig in Richtung Hannover, wo sich seine Spuren verlieren. Erst zu Beginn der fünfziger Jahre war die Georgstraße in Geschwister-Scholl-Straße umbenannt worden. Max Richter kann seine Bemerkungen zum Foto also erst mit einem Abstand von etwa 25 Jahren auf der Rückseite des Fotos angebracht haben. 
Wie gut war seine Erinnerung? War seiner Datierung des Bildes auf den Zeitraum 1926 – 1928 zu trauen? Zunächst wurde Max Richters Datierung überprüft.

Sollte das Foto etwa wie das schon erwähnte Bild mit dem Leipziger Sinfonieorchester im Jahre 1926 aufgenommen worden sein? Geringe Unterschiede in Szendreis Kleidung ließen zumindest nicht auf den selben Entstehungstag schließen.

Das Sinfonieorchester der MIRAG mit Alfred Szendrei vor der Alten Handelsbörse in Leipzig
Fotografie aus dem Jahre 1926
Foto: MDR Orchesterarchiv

Ein genauer Vergleich der beiden Fotos ergab einen wichtigen Unterschied: 
Während die Alte Handelsbörse auf dem Chorfoto eingerüstet war, fehlte das Gerüst auf dem anderen Bild. Dieses Gerüst lieferte für die Datierung wichtige Anhaltspunkte. Da die Börse ein städtisches Gebäude gewesen ist, das der MIRAG für Sendezwecke zur Verfügung gestellt worden war, lag die Vermutung nahe, dass noch Bauakten existieren könnten. Tatsächlich wurden im Leipziger Stadtarchiv entsprechende Bände gefunden. Für die Szendreis Tätigkeit bei der MIRAG umfassenden Jahre 1924 bis 1931 sind in den Bauakten zur Alten Handelsbörse nur einmal Bauarbeiten an der Fassade des Gebäudes dokumentiert worden. Dazu wurde von der Firma Max Tauer am 20. April 1926 ein Leitergerüst aufgestellt. Die Arbeiten verzögerten sich jedoch, so dass der Inhaber von Max Tauer Nachf. zwei Mahnschreiben an das städtische Hochbauamt sandte. Im zweiten Schreiben vom 1. Juni wird erwähnt, dass bereits die Abdeckbretter abhanden gekommen seien. Auf dem Chorfoto sind diese Bretter jedoch noch vorhanden. 
Das Bild wurde also vermutlich zwischen dem 20. April und Mitte Mai 1926 aufgenommen.

Um die Identitäten der abgebildeten Sängerinnen und Sänger zu ermitteln, wurde das Foto unabhängig voneinander fünf ehemaligen Chormitgliedern des Rundfunkchores Leipzig vorgelegt. Alle zeigten spontan auf den selben jungen Mann, den siebenten Herrn von links in der letzten Reihe, der so freundlich und selbstbewusst in die Kamera schaute. Alle äußerten beinahe mit identischem Wortlaut: „Aber das ist doch Dr. Weise!

Weise, von dem später noch die Rede sein wird, war von 1955 bis 1960 Sänger im Leipziger Rundfunkchor. An seinen Vornamen konnte sich keines der ehemaligen Mitglieder erinnern, doch war es ein Leichtes, anhand von erhalten gebliebenen Anwesenheits- und Auszahlungslisten diesen mit Helmuth festzustellen. So war es möglich, seine Dissertation in der Deutschen Bücherei ausfindig zu machen, der entnommen werden konnte, dass er als Alumnus die Leipziger Thomasschule besucht hatte, also Mitglied des Thomanerchores gewesen war. 
Ihn noch unter den Lebenden zu finden, war bei seinem Geburtsjahr 1902 wohl nicht zu vermuten. Vielleicht konnte es jedoch gelingen, Nachkommen ausfindig zu machen! Auch hier war wieder der Zufall hilfreich zur Stelle: Ein pensionierter Sänger des MDR Rundfunkchores, dem das alte Bild ebenfalls vorgelegt worden war, berichtete, dass er mit Weises Tochter nicht nur im selben Haus, sondern auch auf der selben Etage wohne. Es waren kurioserweise Haus und Wohnung, in der Weise mit seiner Familie etwa ab 1930 gewohnt und in dem schon Weises Ehefrau das Licht der Welt erblickt hatte.

Ein Treffen mit Dr. Weises Tochter war schnell arrangiert. Im Nachlass des Sängers befanden sich biografische Angaben, die seine Mitgliedschaft in Szendreis Chor, der Leipziger Oratorienvereinigung, bestätigten, sowie ein weiterer Abzug des im März gefundenen Chorfotos. 
Weise hatte in seiner Gewissenhaftigkeit folgende Angaben auf der Rückseite des Bildes angebracht: 
Die Leipziger Oratorienvereinigung vor der Alten Börse (Naschmarkt) – 1. Mai 1926 etwa 60 Mann; Leiter: Alfred Szendrei

Somit konnte unverhofft die Datierung des alten Bildes bestätigt und sogar noch konkretisiert werden. Der bisher anonyme Chor hatte einen Namen erhalten: die Leipziger Oratorienvereinigung. Damit waren die Nachforschungen einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Es ergab sich eine Verbindung von den Anfängen des Leipziger Rundfunk-Chorwesens hin zur Werléschen Neugründung des Jahres 1946.

Welche Funktionen hatte nun die Leipziger Oratorienvereinigung bei der MIRAG zu erfüllen, welches war ihr Repertoire, wann wurde sie gegründet, und wie entwickelte sie sich weiter? 
Von welchen Zielen sich Szendrei bei der Schaffung seines Chores leiten ließ, äußerte er selbst in seinen Lebenserinnerungen (TRIANGEL 2/1998 – 7/1998). 
Darin beschreibt er auch das Repertoire des Chores für die ersten beiden MIRAG-Spielzeiten, was bedeuten musste, dass die Leipziger Oratorienvereinigung schon 1924 oder 1925 gegründet worden war. Die Lebenserinnerungen enthalten auch detaillierte Angaben über das Repertoire des Chores, die anhand der Programmeinträge in zeitgenössischen Programmzeitschriften, insbesondere in der Leipziger „Die Mirag“, vollauf bestätigt werden konnten.

Übrigens fand sich das Chorfoto vom 1. Mai 1926 im Juni 1926 auch in der Rundfunkzeitschrift „Mirag“. Der Chor wurde hier ebenfalls Leipziger Oratorienvereinigung genannt. Zu diesem Zeitpunkt der Nachforschungen über die Leipziger Rundfunk-Chorgeschichte gab es zwei gesicherte Brückenköpfe: die Existenz der Leipziger Oratorienvereinigung etwa 1924/25 und die Neugründung des Leipziger Rundfunkchores 1946. Von beiden Punkten aus wurde im Folgenden der Bogen geschlagen, in der Hoffnung, dass sich die beiden Brückensegmente in der Mitte fänden. Hoffnungsvoll stimmte, dass zwischen dem Personalbestand des neu gegründeten Chores von 1946 und dem stillgelegten Chor des Reichssenders Leipzig von 1941 zahlreiche personelle Entsprechungen festgestellt werden konnten.

Rüdiger Koch


Zur Chronik des MDR-Rundfunkchores

Kommentare sind geschlossen.